Der Grimassen-Schneider
Wenn ich mir Videos von mir beim Sprechen anschaue, stelle ich mit Entsetzen fest: Ich grimassiere manchmal wie ein Clown. Und damit bin ich nicht allein. Zum Beispiel ziehen viele meiner Schülerinnen und Schüler, wenn sie ein langes, geschlossenes »I« sprechen, unwillkürlich die Augenbrauen nach oben. Ist das schlimm? Naja, bis zu einem gewissen Grad vielleicht nicht, aber irgendwann wird es lächerlich.
Das Gesicht hat zwischen zwanzig und dreißig Muskeln (je nachdem, wie man zählt), von denen nur ein Bruchteil für das Sprechen notwendig ist. Zum Beispiel der Stirnmuskel. Er ist für das Heben der Augenbrauen verantwortlich und drückt Überraschung, Aufmerksamkeit oder auch Skepsis aus – hat aber keinerlei Bedeutung für das Sprechen per se.
Oft schaltet sich der Stirnmuskel ein, wenn wir helle Vokale wie »E« und »I« artikulieren oder in einer hohen Tonlage sprechen oder singen. Warum? Vielleicht versuchen wir körperlich, unserer Stimme in die höheren Register zu folgen. Sicherlich sind wir nicht jedes Mal überrascht, wenn uns ein »E« oder »I« unterkommt. Immerhin machen die beiden Selbstlaute zusammen ein Viertel der deutschen Sprache aus.
Dann gibt es noch den Lachmuskel. Obwohl wir beim Sprechen durchaus lächeln dürfen, brauchen wir den Lachmuskel nicht, um einzelne Buchstaben zu artikulieren. Ebenso wenig ziehen wir unseren Mund beim »E« in die Breite wie beim »I«. Auch lächeln wir nicht beim »R«.
Einer meiner Sprechlehrer hat einmal zu mir gesagt, ich solle beim Sprechen immer an die Vertikale denken und nie in die Breite. Und das stimmt. Das neue sprechtechnische Übungsbuch trifft den Nagel auf den Kopf, wenn es schreibt: »Am besten klingt Deutsch, wenn es ganz vorne im Mund geformt wird.«
Also: schlank sprechen!
Ein ehrliches Lächeln beginnt bei den Augen – genauer gesagt beim Musculus orbicularis oculi, speziell dem Pars orbitalis, dem Muskel, mit dem wir die Augen zusammenkneifen, sodass beim Lächeln kleine Fältchen (Krähenfüße) entstehen. Bei mir selbst beobachte ich, dass ich diesen Muskel beim Sprechen beinahe ständig anspanne. Wozu, weiß ich nicht, da kein einziger Laut der deutschen oder englischen Sprache unter seinem Einfluss gebildet wird.
Fazit: Beim Sprechen sind nur wenige Gesichtsmuskeln wirklich notwendig. Viele von uns neigen dazu, übermäßig viele Muskeln zu aktivieren, was zu ungewollten Grimassen führt. Um klar und effektiv zu sprechen, sollte man sich auf die wesentlichen Bewegungen konzentrieren und überflüssige Muskelaktivierungen vermeiden.
Probier es aus: Mach ein Video von dir selbst, während du laut einen Text liest. Fallen dir überflüssige Bewegungen auf, die du unwillkürlich machst?